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Frankfurter Rundschau online, 04.01.2006

Vom Rand in die Mitte

Zum Linkssein gehört ein Begriff von sozialer Exklusion
VON HEINZ BUDE

Bei der Bundestagswahl haben die Wähler mehrheitlich "links" gewählt, aber nach der Bildung der Großen Koalition ist gesellschaftlich eher unklar, was die Linke ist und für welche Positionen sie eintritt. Heinz Bude schlägt einer neuen Linken vor, sich mit dem Begriff der sozialen Exklusion zu befassen. Heinz Bude ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel und Leiter des Bereichs "Bundesrepublik" am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zum Thema erschien 2004 in der Zeitschrift Mittelweg 36 "Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Rekonstruktion".

Die Regierung hat sich gefunden, die Opposition noch nicht. Es ist klar, dass es nicht so kommen wird wie zu Zeiten der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik. Davon, dass im Untergrund sich etwas zusammenbraut, das auf den Funken einer Bewegung wartet, ist nichts zu spüren. Gegen das Bündnis des Pragmatismus mit seiner Politik der kleinen Schritte formiert sich keine Geheimgesellschaft der Großen Weigerung. Man muss nicht mehr dagegen sein, um dabei sein zu können.

Denn das Unbehagen scheint eine Adresse im System zu haben. Links nennt sich eine Partei, links sehen sich manche junge Kräfte bei den Sozialdemokraten, als links versteht sich die Fraktions- und Parteiführung der Grünen. Zusammengenommen ergibt das eine gefühlte Linke, die sich vorgenommen hat, nach dem Spuk der 90er Jahre wieder die Wahrheit über die Kapitalismus auszusprechen. Es ist das Prinzip der privaten Aneignung der gesellschaftlich geschaffenen Werte, das uns in den Abgrund des Klimawandels treibt, das zur Aussortierung einer Gruppe von Überflüssigem führt, das den Krieg als eine Möglichkeit der Politik wieder denkbar macht.

Marx soll helfen, unsere Zeit in Gedanken zu fassen, nachdem Friedman, Hayek und ihre neoliberale Entourage nach dem Platzen der Blase abgewirtschaftet haben. Man nimmt von links Anlauf, um auszusprechen, was alle merken: Dass wir in ein Zeitalter der Klassenmedizin gehen, dass sich die Kluft zwischen Staatsbürgern mit und ohne Rechte vertieft, dass für wachsende Teile der Bevölkerung sich ihre Existenz in einen täglichen Überlebenskampf mit ungewissem Ausgang verwandelt. Man hat zwar keine große Alternative anzubieten, aber Linkssein bedeutet immer noch, dass man die Wahrheit über das Elend der Menschen zu Gehör bringt.

Das Gefährliche dieses hilflosen Antikapitalismus konnte man in der Endphase des letzten Wahlkampfes spüren: Man mobilisiert die Ressentiments des Publikums durch die Unterscheidung zwischen einem volksnahen Sozialismus und einem volksfremden Kapitalismus. Oskar Lafontaines Ausfall gegen die mobile Arbeitskraft der Ausländer, die das gewachsene Sozialeigentum der Inländer bedrohen, hatte eine innere Notwendigkeit. Die Linke, die die Wahrheit über den Kapitalismus ausspricht, macht sich zum Sammelbecken vagierender antikapitalistischer Gesinnungen, die das Völkische mit dem Sozialen amalgamieren. Wo die Flasche für Marx' Gespenster geöffnet wird, sind Haider, Fini und Le Pen nicht weit.

Es fehlt die bindende Klammer und der begreifbare Zusammenhang

Aber stimmt diese Art von linker Sicht auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse? Wie erklärt sich in diesem Denken die aufblitzende Unruhe in den französischen Vorstädten, die finstere Trostlosigkeit unter dem freigesetzten Proletariat der ostdeutschen Agrarindustrie, die brutale Apathie unter den ausbildungsmüden Jugendlichen aus den bildungsfernen Schichten in Duisburg, Cottbus oder Kaiserslautern? Die antikapitalistische Klage gegen Armut und Arbeitslosigkeit kann eine bestimmte Weltsicht bestätigen, aber sie trifft doch nicht die Probleme des sozialen Zusammenhaltes, mit denen wir heute zu tun haben.

Es ist eben nicht nur die sich verbreiternde Schere zwischen Arm und Reich, die unser gesellschaftliches Zusammenleben bedroht, sondern das sich ausbreitende Gefühl, dass wir keine bindende Klammer mehr haben, die die verschiedenen Teile unserer Gesellschaft in einen begreifbaren Zusammenhang bringt. Eine Linke, die die Wahrheit über den Zustand unserer Welt aussprechen will, muss sich um andere Begriffe bemühen, die die Probleme zum Ausdruck und dementsprechende Politiken in Gang setzen können.

Einer dieser Begriffe ist der Begriff der sozialen Exklusion. Der ist in Großbritannien ein politischer Begriff, der sich auf verwehrte Staatsbürgerrechte bezieht, genauso wie in Frankreich, wo die Exkludierten die Paria der republikanischen Nation bezeichnen. In den Sozialkulturen dieser beiden europäischen Nachbarn ist damit gedacht, dass man durch die Erhöhung von Transfereinkommen oder durch die Absicherung von Statusrechten nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt begründet. Es geht in beiden Fällen um eine gehaltvolle Re-Definition unserer Vorstellung von Teilhaberechten. Was braucht man, um ein würdiges Leben in unserer Gesellschaft führen zu können? Welche Aufmerksamkeit haben diejenigen verdient, die den Mut verloren haben? Wie spricht man jene an, die den Glauben daran verloren haben, dass es auf sie noch ankommt?

Die Unsicherheit ist in die Mitte der Gesellschaft gesickert

Eine linke Politik in Deutschland muss sich mit dem Begriff der sozialen Exklusion anfreunden, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, gegen eine zudeckende Rhetorik des kleinen Pragmatismus und der schrittweisen Lösung das Bewusstsein für die großen Probleme unserer Gesellschaft offen zu halten. Der Exklusionsbegriff stellt eine Verbindung zwischen der Mitte und dem Rand unserer Gesellschaft her. Drohende Unsicherheit ist längst nicht mehr auf wohldefinierte Randgruppen beschränkt, sondern in die Mitte unserer Gesellschaft gesickert. Von der Erfahrung prekärern Wohlstands können unregelmäßig und ungesicherte Beschäftigte in den Wachstumssektoren der vielgerühmten Wissensgesellschaft ein Lied singen. Im Bereich der Medien, der unternehmensbezogenen Dienstleistungen, unter Ärzten, Rechtsanwälten und Apothekern finden sich nicht wenige, die mit zwei Kindern und einer erheblichen Immobilienhypothek auf einem schmalen Grat balancieren. Die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben scheint zwar gesichert, aber durch ein unkalkulierbares Lebensereignis kann man durchaus ins Strudeln geraten. Auf welche Rücklagen kann man dann zurückgreifen? Wen kann man im Zweifelsfall in Anspruch nehmen? Welche Anrechte sind dann noch gesichert?

Exklusion ist ein Begriff, der das Ganze in den Blick bringt. Es geht um Gefährdungslagen und Verwundbarkeitszonen, die quer durch unsere Gesellschaft verlaufen. Es gibt Armut trotz Beschäftigung, Mutlosigkeit durch Abhängigkeit vom Sozialstaat und soziale Verwahrlosung aufgrund von kollektiver Indifferenz. Wer vom Kapitalismus spricht, kann über diese Formen der stillen Entkoppelung nicht schweigen. Und wer etwas ändern will, darf nicht nur mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken solidarisch sein wollen. Denn wenn es einen angemessenen Begriff von Linkssein gibt, dann ist es der, die Dinge so beim Namen zu nennen, dass noch etwas anderes möglich ist als das, was ist.

Es reicht nicht Empörung zu mobilisieren, man braucht die Begriffe, die eine gültige Vorstellung der sozialen Probleme unserer Jetztzeit beinhalten. Es gibt auch von links kein Anrecht darauf, an der Wirklichkeit vorbei zu reden. Man muss die Bereitschaft, das Andere zu denken, mit der Einstellung, das Richtige zu sagen, in Verbindung bringen. Dann kann von links erreicht werden, dass eine Große Koalition derer, die nur noch handhabbare Probleme kennen, sich nicht wie Mehltau über unsere Gesellschaft legt.


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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2006
Dokument erstellt am 03.01.2006 um 16:40:15 Uhr
Erscheinungsdatum 04.01.2006
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